Stellungnahme für die Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland e.V.
Jochen Hüttemann – „Einblicke – Ausblicke – Durchblick“
85 x 105 cm (H x B)
Technik
Nach dem Färben der Stoffe für das Top und die Applikationen erfolgt ein ständiger Wechsel zwischen nähen und schablonieren des Tops, bis zum gewünschten Format. Die zu applizierenden Stoffe werden ebenfalls zusammengenäht und dann schabloniert. Die Fenster werden nach dem Quilten appliziert. Erst zum Schluss wurden die Durchbrüche gearbeitet. Der Quilt hat ein eigenes Backing, die Kanten sind verstürzt.
Material
Handgefärbte Baumwollstoffe, Batikstoffe, kommerzielle Patchworkstoffe, selbst-geschnittene Schablonen, Stoffmalfarbe, Näh- und Quiltgarn
Künstlerische Aussage
Einblick – in Fenster kann man hinsehen. Dabei schaut man in einen privaten Raum, in die Lebenswelt eines anderen Menschen.
Ausblick – aus Fenstern kann man hinaussehen. Dabei öffne ich mich und sehe die Welt. Es besteht die Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten.
Durchblick – der Versuch aus beiden Richtungen das zu sehen, was dahinter liegt, zu erkunden, wie es weiter geht.
Jochen Hüttemann beschäftigt sich seit über 40 Jahren überwiegend mit textilen Techniken aller Art. Er hat sich mit Batik, Seidenmalerei, Mixed Media, Weberei und Malerei auseinander gesetzt. In allen Techniken ist er Autodidakt. Bis heute gibt er Webkurse im Tuchmuseum Remscheid. Um sich nicht zu verzetteln, hat er sich eine Ausdrucksform gesucht, die alle diese Techniken kombiniert und ist so beim Patchwork gelandet, und hier sehr schnell beim Art Quilt. Er färbt seine Stoffe selbst. Beim Bedrucken verwendet er gerne Pinsel und Schablonen, um die Farbe kontrolliert aufbringen zu können. Außerdem begeistert er sich für gebrauchte Stoffe. Weiße gebrauchte Bettwäsche, die er selbst färben und bemalen kann, benutzt er am liebsten. Die Haptik von weichen Stoffen hat es ihm angetan, Stoff ist sein Medium. Sein Gedanke ist, ausgedientem Material ein zweites Leben einzuhauchen.
Das geht soweit, dass er seine Stickgarne ebenfalls selbst färbt. Das individuelle Stickgarn zu haben, das ganz genau zu dem jeweiligen Quilt passt, ist ihm wichtig. Er näht mit der Maschine, quiltet teilweise mit der Maschine, teilweise von Hand und rundet seine Quilts mit Stickerei und Applikationen ab, die er von Hand anbringt.
Inhaltlich gilt sein Interesse den Menschen, ihren Emotionen und ihrem Handeln. Umgesetzt wird das in erster Linie durch Gesichter und Hände, die er mit Schablonentechnik auf Stoff malt. Seine Arbeitsweise ist davon geprägt, dass er immer nur an einem Quilt arbeitet, sich dem aber voll und ganz widmet. Es gibt dann nur diesen einen Quilt, in den er sich hineinstürzt und den er fertig manchen muss, bevor er sich auf etwas Neues einlassen kann. Gleichzeitig will er in jeden Quilt etwas Neues einarbeiten – sei es eine neue Technik oder ein anderes Material. Es muss eine Entwicklung spürbar sein, Stillstand lehnt er ab.
Die Darstellungen seiner ersten Serie haben immer etwas Mahnendes, sind farblich reduziert. Vor vier bis fünf Jahren dann kann es zu einem Stillstand. Jochen Hüttemann war an einem Punkt angekommen, an dem er das Gefühl hatte, er habe die Technik ausgereizt. Er war in einer Sackgasse angekommen. Er wollte farblich nicht mehr so eingeschränkt sein, wollte bunter arbeiten. Sein gesamter Ausblick aufs Leben war positiver geworden und das wollte er in seiner Kunst darstellen. Wie er das umsetzen sollte, war ihm hingegen nicht so klar, er hatte eine künstlerische Blockade.
Zugleich kämpfte er mit Selbstzweifeln ganz anderer Art: Wurden seine Arbeiten in Wettbewerben und Ausstellungen angenommen, weil er der „Quotenmann“ und gut fürs Image der Organisatoren war, oder weil sie objektiv gesehen gut waren?
Der Drang, kreativ tätig zu sein, trieb ihn jedoch weiterhin an. Um sich neu zu orientieren, hat er ein mentales Training angewandt, das er aus seiner beruflichen Tätigkeit im Gesundheits- und Sozialmanagement kannte und auf sein kreatives Schaffen übertragen hat. Diese Trainings bietet er seither auch anderen an, weil ihm aus eigener Erfahrung bewusst geworden ist, dass nicht nur Sportler oder Manager mit Schwierigkeiten kämpfen – auch Kreative müssen Hürden überwinden und sich immer wieder ihren eigenen Problemen stellen, Lösungen finden, damit der kreative Prozess aktiv bleibt.
Diesen Prozess persönlich zu durchlaufen, hat durchaus gedauert, aber das Ergebnis ist, dass Jochen Hüttemann das Selbstbewusstsein entwickelt hat, dass er seine Werke in erster Linie für sich herstellt. Wenn sie anderen gefallen, ist das gut. Wenn sie andere anregen, noch besser. Aber wirklich gefallen müssen sie nur ihm.
Und es ist ihm sehr wichtig, seine Erkenntnis weiterzugeben: Wenn man am Ende einer künstlerischen Entwicklung ist und den Eindruck hat „Ich habe mich totgelaufen“, gibt es immer einen Weg, eine Entwicklung. Man muss nur dranbleiben. Es geht weiter, neue Türen werden sich öffnen.
Das Ergebnis seiner Neuorientierung ist eine Serie mit Gesichtern, die immer direkt von vorne gezeichnet sind. Niemals im Profil. Sie sind so reduziert, aber doch individuell. So auch in der Arbeit „Einblicke – Ausblicke – Durchblick“.
Gesichter schauen den Betrachter aus den Fenstern einer Häuserfassade direkt an, weichen nicht aus und ermöglichen damit einen Blickwechsel mit dem Gegenüber. Teilweise sind diese Gesichter gefangen hinter Gittern – sie können nicht anders, als geradeaus zu schauen. Daher ist es der Ausstellungsbesucher, der dem Blick ausweichen muss, die Blickrichtung ändern muss. Er entscheidet, ob er in die Gesichter schaut, den Blicken ausweicht oder sogar durch sie hindurchschaut – daher auch die zwei Löcher in dem Quilt, die einen Durchblick erlauben.
Bei der letzten Ausstellung „Blickwechsel“ in dem kleinen Ausstellungsraum des Tuchmuseum Remscheid wirkten 15 dieser Arbeiten auf manchen Besucher durchaus beklemmend, obwohl sie von einer fröhlichen Farbigkeit geprägt sind. Diese Direktheit löst in jedem etwas anderes aus. Manche empfinden diese Blickwechsel positiv und anregend. In jedem Fall lassen sie den Besucher nicht gleichgültig. Und genau deshalb wurde der Quilt in die „Tradition bis Moderne XIII“ aufgenommen.
Der Quilt ist ein Beispiel dafür, wie Künstler in Deutschland sich trotz aller Hürden und Schwierigkeiten künstlerisch und persönlich weiterentwickeln.
Quellen:
Interview mit Jochen Hüttemann
Katalog „Tradition bis Moderne“, Ausgaben XII und XIII, der Patchwork Gilde Deutschland e.V.
Barbara Lange, April 2023