Stellungnahme für die Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland e.V.
Edith Kosiek-vorm Walde - Völkerwanderung – Verschmelzung
ausgestellt bei Tradition bis Moderne VIII (2008)
180 x 140 cm (H x B)
Baumwolle, Seide, Leinen, bedruckt, gefärbt
Fototransfer maschinengequiltet
Beim Durchschauen der T-M-Kataloge fallen die Arbeiten von Edith Kosiek-vorm Walde nicht nur durch ihr „gewisses Etwas“ ins Auge, sondern es beeindruckt auch, mit welcher Konstanz sie völlig zu Recht im Laufe der Jahre immer wieder von den Juroren ausgewählt werden. Auch im Vergleich zu den Quilts im internationalen Ausstellungsgeschehen im entsprechenden Zeitraum, an dem Edith Kosiek-vorm Walde ebenfalls mitwirkt, ist leicht festzustellen, dass die Schöpferin ihre selbst gestalteten Stoffe mit großer technischer Variabilität, mit Phantasie und oft mit einem Hintergedanken verarbeitet – oder, wie sie selbst sagt: „ ‚flach’ oder ‚plastisch’‚ dreidimensional’ oder auch ‚transparent’“. Sie probiert alles aus und kommt zu dem Schluss:
„Für mich ist das Quilten die ideale Technik, die es auch noch ermöglicht, Gedanken und Gefühle mit einzubringen.“
Edith Kosiek-vorm Walde (geb. 1941) blickt auf einen ähnlichen Werdegang wie viele von uns Quilterinnen zurück: In ganz jungen Jahren werden die Püppchen neu eingekleidet, später geht es an eigene Outfits, die gestaltet und genäht werden. Es bilden sich Vorlieben aus und eventuell wird auch die Berufswahl davon beeinflusst.
Nach dem Besuch eines musischen Gymnasiums macht sie eine Ausbildung im Tischlerhandwerk als Voraussetzung für ihr Studium der Innenarchitektur. Ab 1972 gibt sie im Workshop Hannover e.V. mit großem Erfolg Textilkurse und setzt 1982 einen Schwerpunkt auf die Seidenmalerei. Aus der bemalten Seide näht sie Kleidung und es fallen viele Stoffreste in wunderschönen Farben an – der Grundstock für den ersten Quilt „Das kleine Gelb“, der 1985 entsteht und den sie bei der Ausstellung der 2. Quilt-Biennale, die vom damaligen Textilmuseum Max Berk (Heidelberg) im Jahr 1986 ausgerichtet wird, zeigen kann. Sie erkennt: „Seitdem hat mich das Quilten fest im Griff.“ In den nächsten Jahrzehnten werden ihre Quilts durch zahlreiche Beteiligungen an internationalen Ausstellungen und Berichte in verschiedenen Fachpublikationen einem breiten Publikum bekannt.
Mit „Völkerwanderung – Verschmelzung“ nimmt Edith Kosiek-vorm Walde an der Tradition bis Moderne VIII, die die Patchwork Gilde Deutschland im Jahr 2008 veranstaltet, teil. Das Werk weist eine gewisse Ähnlichkeit (und zugleich eine Weiterentwicklung hinsichtlich des Farbkonzepts) mit ihrer Arbeit „Bruchstücke der Zeit“ auf, die 2006 bei der von Dörte Bach organisierten Ausstellung „Zeit-Stücke“ zu sehen war, einer Arbeit, die wie „Völkerwanderung – Verschmelzung“ durch die gekonnte Reduktion der Gestaltungselemente auf das Wesentliche besticht. Gleichzeitig gelingen dadurch raffinierte Umsetzungen von komplexen Themen.
Einzelne, sich überlappende Fußabdrücke, die sie – Schuheinlegesohlen gleichend ausgeführt – in großer Zahl auf den ersten Blick scheinbar planlos aneinanderfügt, verbinden sich zu einem Ganzen, zu einem arrangierten, ruhig wirkenden, großformatigen Gesamtbild, zu einem sofort lesbaren Symbol, das viele Menschen, die in einer Hauptrichtung unterwegs sind, versinnbildlicht.
Im kollektiven Menschheitsgedächtnis sind viele Wanderbewegungen umfangreicher Menschengruppen festgehalten, wie ein Blick in die Bibel, in Geschichtsbücher, in Mythologien oder Epen beweist.
Ob durch Vertreibung, kriegerische Auseinandersetzungen, Naturkatastrophen, religiöse Gründe oder wirtschaftliche Ursachen hervorgerufen sei dahingestellt – das Thema, das 2015/16 die Schlagzeilen und die öffentliche Diskussion beherrscht, war auch schon im Entstehungsjahr von „Völkerwanderung – Verschmelzung“ aktuell. Die italienische Insel Lampedusa beispielsweise verzeichnet seit 2003 immer weiter steigende Zahlen von Flüchtlingen, die von Afrika über das Mittelmeer her kommend, versuchen, das Gebiet der Europäischen Union zu erreichen. Schon 2006 setzen sich auch andere Textilschaffende, wie z.B. die Österreicherin Evi KirchmairKrismer in ihrem Quilt „Ströme / Strömungen“, mit dem sie bei der 3. Europäischen QuiltTriennale den 3. Preis gewinnt, auch mit Flüchtlingsströmen auseinander, ein Sujet, das sie angesichts seiner Bedeutung für die von mir kuratierte und organisierte Ausstellung „Zeichen der Zeit“ (ab 2012) nochmals aufgreift.
Dass Edith Kosiek-vorm Walde ebenfalls vom afrikanischen Kontinent stammende Menschen im Blick hat, dafür spricht die Farbgebung ihrer Arbeit: Fußabdrücke auch in dunklen Brauntönen sind vor allem im unteren Bereich der Arbeit zu finden, während die Fußformen im mittleren Teil heller werden, bis sie sich ganz oben mit solchen in weißen Tönen mischen – verschmelzen. Die Richtung der Bewegung von Süden nach Norden ist durch die Anordnung offensichtlich und ebenso ist die gelungene Integration im oberen Teil – nach Zeitablauf – erkennbar.
Erst bei näherem Hinsehen bemerkt man, dass die „Schuhsohlen“ aus Baumwolle, Seide und Leinen mit Hilfe von Färbe-, Druck- und Fototransferverfahren individuell gestaltet wurden, kleine Größenunterschiede, leicht voneinander abweichende Formen und teilweise Musterungen aufweisen, die an Tragespuren erinnern. Aus der Distanz betrachtet, treten diese individuellen Merkmale – mit Ausnahme der farblichen Gestaltung, die ebenfalls einem klaren Konzept folgt – jedoch zurück und ordnen sich einer insgesamt gesehen reduzierten Formensprache unter. Sie sind dezent, fallen nicht auf, sie stören überhaupt nicht den Eindruck, dass die immerhin 180 x 140 cm große Arbeit ganz im Sinne des berühmten Architekten Ludwig Mies van der Rohe nach dem Prinzip „Weniger ist mehr“ funktioniert.
Dass Edith Kosiek-vorm Walde in der Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland e.V. vertreten sein sollte, ist angesichts dessen, dass sie so oft mit ambitionierten Arbeiten an der T-M teilnahm und damit den Verein aktiv unterstützte, war von Anfang an für mich klar. Sehr schön, dass dies mit ihrem Werk „Völkerwanderung – Verschmelzung“ gelungen ist, einem Werk, das mit minimalen Mitteln eine maximale Wirkung erzielt, das das gestalterische Können der Schöpferin beweist und – zeitlos gestaltet – gerade in der heutigen Zeit zum Nachdenken Anlass bietet.
Quellen:
Tradition bis Moderne VIII (2008), Ausstellungskatalog
Zeit-Stücke, Ausstellungskatalog (2006)
Quilt-Biennale 1986, Ausstellungskatalog
Europäische Quilt-Triennale 2006, Ausstellungskatalog
Zeichen der Zeit – Engagement und Kunst, Ausstellungskatalog (2012) www. https://de.wikipedia.org/wiki/Lampedusa
https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Mies_van_der_Rohe
Gudrun Heinz, April 2016