Größe: 264 x 160 cm (H x B)
Baumwollstoffe, Applikation
Stellungnahme für die Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland e.V.
Am Valentinstag 2016 sah die amerikanische Textilkünstlerin und Geschichtenerzählerin Jeanne Hewell-Chambers eine Fernsehdokumentation über das in Deutschland ursprünglich ‚Euthanasieprogramm‘ genannte Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten für körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen (heute oft als das T4-Programm bezeichnet) und fasste anschließend einen weitreichenden Entschluss. Jeanne Hewell-Chambers hat eine von früher Kindheit an behinderte Schwägerin (Nancy), zu der sie eine innige Beziehung pflegt und deren Zeichnungen sie in Quilt-Kollaborationen umsetzt. Da ihr während der Dokumentation klar wurde, dass Nancy mit größter Wahrscheinlichkeit diesem Vernichtungsprogramm zum Opfer gefallen wäre, wollte Jeanne Hewell-Chambers ein weltumfassendes Quiltprojekt ins Leben rufen, um der durch die Nationalsozialisten Ermordeten zu gedenken und gleichzeitig ein Plädoyer abzugeben für die Integration und mitmenschliche Behandlung heute in unserer Gesellschaft lebender Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen.
Die Urteile, durch die Opfer des T4-Programms der Vernichtungsmaschinerie ausgeliefert wurden, waren dadurch gekennzeichnet, dass drei ‚begutachtende‘ Ärzte oder Verantwortliche den Bericht über die entsprechende Person prüfen mussten, und mit einem roten ‚x‘ unterzeichnen mussten, wenn sie die Tötung ‚befürworteten‘; es reichten jedoch bereits zwei rote x-Marken, um das Schicksal dieser Person zu besiegeln. Daraus entwickelte Jeanne Hewell-Chambers die grafischen Vorgaben für ihr Projekt: zwei rote ‚x‘-Markierungen auf weißem Hintergrund sollten jeweils einen Quilt-Block ergeben. Die 3 Größen der zu erstellenden Blocks wurden so festgelegt, dass diese problemlos miteinander zu kombinieren waren. Anschließend startete sie Aufrufe in den sozialen Medien zur internationalen Kollaboration, forderte zur Erstellung von Blocks auf und suchte helfende Hände, die Quilts zusammennähen oder quilten würden, rief zu Material- und Sachspenden auf. Innerhalb weniger Wochen waren bereits Menschen aus über 40 Ländern an dem Projekt beteiligt.
Als Internationale Repräsentantin der Patchwork Gilde Deutschland e.V., hatte ich in den sozialen Medien von dem Projekt erfahren und die Information weitergegen. Daraufhin beteiligten sich zahlreiche deutsche Teilnehmer:innen als Einzelpersonen und Quiltgruppen, es kamen ca. 30 Quilts mit deutscher Beteiligung zusammen. So machte es sich zum Beispiel die Quiltgruppe von arttextil e.V. Dachau zur Aufgabe, alle Opfer des Programms der in der Nähe von Dachau gelegenen Behinderteneinrichtung, heute Franziskuswerk Schönbrunn, zu dokumentieren, und erstellte 7 Quilts. Mehrere Einzelpersonen, deren Familien durch den Verlust von Angehörigen durch das Programm betroffen waren, erstellten sehr persönliche und emotional bewegende Quilts. Durch Kontakte als Internationalen Repräsentantin produzierte eine Gruppe von israelischen Quilterinnen genügend Blocks, um einen rein israelischen Quilt zu nähen, zusammengenäht und gequiltet wurde er von zwei Mitgliedern der Patchwork Gilde Deutschland e.V. (Uta Lenk, Bea Galler).
Bei den Patchworktagen in Celle 2018 wurde die deutsche Beteiligung am Projekt in einer Ausstellung der Öffentlichkeit präsentiert, bevor diese Ausstellung noch in München, in Teilen in Frankreich und anderen Orten gezeigt wurde. Bei der Reaktion des Publikums in Celle, wie auch in den Kommentaren der Beiträger:innen, war zu hören, dass die Intention hinter der Ausstellung direkt ins Herz der Menschen traf. Zahlreiche bewegende, detaillierte und auch sehr persönliche Geschichten von betroffenen Familien wurden erzählt und von Jeanne Hewell-Chambers, die persönlich mit ihrem Mann zur Ausstellung angereist war, in das Archiv der zu den Quilts gehörenden Geschichten aufgenommen.
Zum Zeitpunkt dieser Stellungnahme ist noch in der nahen Zukunft eine Gesamtausstellung aller Quilts, die der 70,273 Opfer des T4-Programms gedenken, geplant, deshalb sind alle Quilts aus deutscher Produktion mittlerweile in die USA überführt worden.
Die grafische Vorgabe der roten ‚x‘-Markierungen auf weißem Hintergrund hatte in der Gruppe der deutschen Beteiligten die Frage aufgeworfen, ob es nicht möglich wäre, auch farblich umgekehrte Quilts beizusteuern. Dies wurde nach Anfrage von Jeanne Hewell-Chambers abgelehnt, da die Einheitlichkeit der Aussage der Quilts und die Eindrücklichkeit der Wirkung von dieser konsequenten grafischen Gestaltung bestimmt wird. Trotzdem haben einige Mitglieder der Patchwork Gilde e.V. ‚umgekehrte‘ Blocks genäht und zu einem entsprechenden Quilt zusammengestellt. Sie wussten vor dessen Fertigstellung, dass er nicht in den Fundus des 70,273-Projektes aufgenommen würde, haben sich aber dennoch daran beteiligt. Ein Gilde-Mitglied sagte: „So kann ich nach der Betroffenheit, die mit den weiß-roten Quilts ausgedrückt wurde, auch zeigen, dass ich mir wünschte, es wäre alles anders gekommen, auch wenn ich weiß, dass ich durch diese paar umgekehrten Blocks nicht wirklich etwas ändern kann. Es ist mein persönlicher Ausdruck des Wunsches nach Versöhnung.“
Der umgekehrt Rot-Weiße Quilt zeichnet sich dadurch aus, dass einige Blöcke auf ersten Blick nur eine x-Markierung, oder 3 x-Markierungen zu enthalten scheinen. Bei genauem Hinsehen ergeben sich aber immer wieder Paarungen, die die 2 x-Markierungen vervollständigen, damit wird die graphische Deutlichkeit „doppelte Abzeichnung durch die urteilenden Ärzte“ auch in diesem Quilt beibehalten. Der Quilt „70,273 Projekt, umgekehrt (rot-weiß“ besteht aus insgesamt 70 paarigen x-Markierungen und würde im Gesamtprojekt so für 70 Opfer des T-4-Programms stehen. Zusammengesetzt und gequiltet wurde er von Erika Beetz, Leipzig. Die Blöcke sind überwiegend aus roten Baumwollstoff als Hintergrundstoff und weißen Applikationen gefertigt.
Da alle weiß-roten Quilts in den Besitz des 70,273-Projektes übergegangen sind und von diesen keiner zur Verfügung steht, um diese wichtige Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte auch in Quilt-Kreisen für die Sammlung der Patchwork Gilde e.V. durch ein Beispiel zu belegen, plädiere ich dafür, diesen rot-weißen Quilt stattdessen in die Sammlung aufzunehmen. Er ist direkt aus dem Geschehen um die Herstellung der eigentlichen 70,273-Projekt-Quilts entstanden und demonstriert genauso deutlich die Intensität, mit der die Teilnehmenden an dem Projekt die persönliche und gesellschaftliche Betroffenheit textil umgesetzt haben, wie es einer der weiß-roten Quilts vermocht hätte. Er repräsentiert eine wichtige Phase im Quiltgeschehen in der deutschen Patchworkszene und ist somit eine würdige Bereicherung und wichtige Ergänzung für die Sammlung.
Weiterführende Informatinen: https://www.thebarefootheart.com/70273-info/
Dr. Uta Lenk, Kirchenlamitz, Dezember 2024